Steffen Lux in Raum und Zeit

 

Verbotene Zone

amerikanische Diskussion über einen deutschen Zensurfall im Internet mit weltweiter Wirkung

NEW YORK, Anfang Januar. Eines der wenigen deutschen Wörter, die jeder Amerikaner versteht, ist "verboten". Immer wieder war es in den vergangenen Tagen in Zeitungen und Zeitschriften zu lesen, als Überschrift zu Aufstellungen von Organisationen und Diskussionsgruppen, als roter Stempel über Adressen oder schwarzer Balken über Computermonitoren. Seitdem die Firma Compuserve in der vergangenen Woche bestimmte Bereiche des weltweiten Datennetzes Internet für seine Kunden gesperrt hat, ist die amerikanische Öffentlichkeit zumindest irritiert. Denn Compuserve, einer der größten Online-Dienste der Weit mit zentralem Sitz in Columbus, Ohio, über den mehr als vier Millionen Benutzer in hundertvierzig Ländern Zugang zum weltweiten Informationsmarkt erhalten, handelte wenn nicht auf Geheiß, so doch in einer Art vorauseilendem Gehorsam auf eine Untersuchung der Münchner Staatsanwaltschaft.

Diese hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, wie die Verbreitung von Kinderpornographie - ein Straftatbestand nicht nur in Deutschland in internationalen Datennetzen verhindert werden kann. Compuserve, von der Staatsanwaltschaft informiert, sperrte daraufhin für seine Abonnenten all jene Internetadressen, die der Münchner Behörde suspekt vorkamen. Betroffen von der Zugangssperre des Online-Dienstes waren keineswegs nur Liebhaber der Pädophilie, sondern mehr als zweihundert sogenannte "newsgroups", in denen zum Beispiel auch Behinderte über praktische Hilfsmittel diskutieren oder Homosexuelle über Erbschaftsfragen.

Dieser Fall von Zensur im globalen Datennetz zeigt die ungeheuren Probleme, die der grenzenlose Austausch jedweder Information und privaten Mitteilung über den Personal Computer der Rechtsprechung bereitet. Denn Folge des globalen Datenmarktes, zu dem jedermann überall Zugang hat, ist unter anderem, daß auch für Gesetze oder Vorschriften keine Grenzen mehr gelten. Compuserve ist ebensowenig wie andere Online-Dienste in der Lage, den Benutzern eines einzigen Landes entsprechend einer nationalen Gesetzgebung den Zugang zu bestimmten Daten zu versperren. Selbst wenn, wie im vorliegenden Fall, allen Compuserve-Benutzern der Weg im Internet zu bestimmten Datenmengen versperrt wird, können die Netzsurfer immer noch im wuchernden World Wide Weh alles finden, wonach ihnen der Sinn steht. Auch pornographische Bilder von Kindern.

Die Diskussion über den deutschen Verbotsfall mit weltweiter Wirkung erhitzt in Amerika die Debatte, die hier seit einiger Zeit im Zusammenhang mit der von der Regierung geplanten "Communication Bill" geführt wird. In dieser Gesetzesvorlage, in der einerseits durch eine umfassende Revision der Kartellgesetze der Medienmarkt von allen Wettbewerbsbeschränkungen befreit und neu geordnet - also noch weiter oligopolisiert - werden soll, sind andererseits Restriktionen der bisher völlig ungehinderten Computerkommunikation vorgesehen. Das ist in einem Land, dessen Verfassung nahezu grenzenlose Redefreiheit garantiert und in dem gleichzeitig überaus prüde Moralvorstellungen herrschen, ein heikles Thema. So benutzen die Verfechter einer Zensur im Cyberspace den deutschen Vorstoß als Unterstützung für ihre Pläne, während die Kritiker der "Communication Bill" den Fall zum Anlaß nehmen, auf die Gefahren der sehr viel weiterreichenden amerikanischen Vorhaben hinzuweisen.

Denn die Mitglieder in den entsprechenden Kongreßkomitees haben inzwischen entschieden, daß das Internet nicht etwa ein elektronisches Äquivalent zur Presse sei, deren Freiheit vom ersten Verfassungszusatz weitgehend geschätzt ist, sondern ein dem Radio und Fernsehen vergleichbares Medium. Das bedeutet, die Kommunikation im Internet kann von der Regierung reguliert - viele befürchten zensiert - werden. Kriterium dafür, was in Zukunft übers Internet verbreitet werden darf, ist der äußerst nebulöse Begriff "indecent" (unschicklich, anstößig), der sich auf pornographisches Material ebenso beziehen läßt wie auf nahezu alles andere.

Sollte aus der Vorlage ein Gesetz werden, entstände die absurde Situation, daß in einer Zeitung oder Zeitschrift ein Text ungehindert erscheinen könnte, der, verbreitet über die Internetadressen derselben Zeitschrift oder als private e-mail verschickt, illegal und strafbar wäre. Um welche Art von Anstößigkeit es sich dabei handeln mag, zeigte ein erster Feldzug des Hauptkonkurrenten der jetzt im Kreuzfeuer stehenden Firma Compuserve. Auf dem Höhepunkt der Kongreßdebatte über das Unschickliche, so berichtete die "New York Times", entschied sich Amerikas größter Zubringer zur Datenautobahn, "America Online", elektronische Bluthunde auf das Wort "breast" zu jagen. Auch in den Diskussionsforen von Brustkrebspatientinnen wurde das unziemliche Wort getilgt.

Die erste ausschließlich digitale Zeitung, "American Reporter" (Adresse: http:// www.newshare.com), die sich zu Recht von der Gesetzesvorlage bedroht sieht und netzweite Proteste, ganz reale Demonstrationen und Unterschriftenlisten organisiert hat, hat zur Unterstützung ihrer Aktionen den texanischen Richter Stephen Russell gewonnen. Sobald das geplante Gesetz wirksam wird, will Russell einen durch und durch unschicklichen Artikel im "American Reporter" veröffentlichen. Das unausweichliche Verbot wird das Gesetz vors Verfassungsgericht und dort wahrscheinlich zu Fall bringen.

VERENA LUEKEN in FAZ 4.1.96